1916
Aus den Tagebüchern von Erich Mühsam:
„München, Montag, d. 26. Juni 1916.
Hundertste Kriegswoche – und noch weiß niemand, ob wir überhaupt schon die zweite Hälfte des schändlichen Treibens erreicht haben. Seit drei Tagen hängen wieder mal Fahnen aus den Fenstern, weil ein weiteres Panzerwerk vor Verdun (Thiaumont) erstürmt worden ist. Zwei bayerische Regimenter werden genannt, die die Heldentat vollbracht haben, darunter das Münchner Leibregiment. Was so ein Sturm auf eine befestigte starke Stellung an Menschenopfern kostet, weiß man doch nachgrade so ungefähr, und daß der Fall eines Forts von einem entscheidenden Siege himmelweit entfernt ist, sollte man doch grade aus der Verdun-Offensive seit Februar gelernt haben. Aber nein: wir erfahren, daß ein paar hundert Münchner tot oder zu Krüppel geschossen worden sind und wedeln vor Jubel. – Dabei wächst Unzufriedenheit, Verbitterung, Verzweiflung, Wut jeden Tag. Die Hungersnot steht mit gespreizten Klauen schon bald vor den Türen der Vermögenden, und die Soldaten an der Front leiden buchstäblich Hunger. Ausbrüche im Volk werden mit Waffenmacht unterdrückt, und gestern erzählte mir in Rosenheim (wir machten einen Sonntagsspaziergang von Aibling dorthin) ein Soldat, man wolle nach München ein preußisches und nach Berlin ein bayerisches Regiment legen, um im Falle eines Schießkommandos aufs Volk keine Weigerung befürchten zu müssen.“
| Quelle: http://www.muehsam-tagebuch.de/tb/diaries.php#d_1916_06_26